Tibet als ›Hölle auf Erden‹

Tibet als ›Hölle auf Erden‹

Der Monat März hat sich in eine Auseinandersetzung verwandelt, die um das Patentrecht auf die historische Erinnerung Tibets geführt wird. Tibeter beanspruchen den 10. März, den Tag an dem im Jahr 1959 der Aufstand in Lhasa ausbrach, als einen Nationalfeiertag, und dieses Jahr war China gezwungen, drastische Maßnahmen zu ergreifen, um jeden Hinweis darauf zu unterdrücken. Zur selben Zeit konzipiert China einen neuen Feiertag, um das Gedenken genau dieses Aufstandes zu unterdrücken: der 28. März ist von nun an der »Tag der Befreiung von der Leibeigenschaft«.

Hinter all dem steckt nichts Scharfsinniges—China ist völlig entschlossen, die Sicht der Geschichte der Tibeter zu dominieren, egal ob dabei Zwang oder gar Gewalt notwendig ist.

Auf einer Ebene symbolisiert der neue Feiertag die Rückkehr des Jahres 1959 und des tibetischen Aufstandes. Im Jahre 1981, als die Diskussionen zwischen den Repräsentanten des Dalai Lamas und und der chinesischen Regierung gerade begannen, hat keine geringere Person als der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Hu Yaobang gegenüber dem Bruder des Dalai Lama, Gyalo Thondup, darauf bestanden, dass »es keine Streiterei mehr über die vergangene Historie geben sollte, speziell die Ereignisse des Jahres 1959. Lassen Sie uns das ignorieren und vergessen.« Danach nahm China in den Gesprächen mit den Repräsentanten des Dalai Lama 1959 vom Verhandlungstisch. Nun aber, wo es die klarsten Anzeichen bisher gibt, dass diese Gespräche in einer Sackgasse angekommen sind—die letzte Runde im November endete demütigend für die Tibeter—hat China 1959 zu den eigenen Bedingungen wieder ins Spiel gebracht. Folglich gibt es nun diese erneuerte Betonung, 1959 als das Jahr der Befreiung für Tibets brutal unterdrückte Leibeigene zu bezeichnen.

Es gibt keinen Zweifel darüber, dass Tibets traditionelle Gesellschaft hierarchisch und rückschrittlich war, reichlich versehen mit aristokratischen Grundbesitz und gebundener Landbevölkerung. Und es gibt keinen Zweifel, dass Tibeter, ob im Exil oder Tibet, kein Verlangen äußern, solch eine Gesellschaft wieder herzustellen. Viele Tibeter werden bereitwillig zugeben, dass die soziale Struktur sehr ungleich behandelnd war. Aber Tibet war schwerlich die comichafte, brutale »Hölle auf Erden«, wie es die chinesische Propaganda darstellt. In den meisten Diskussionen geht das Verständnis unter, dass Tibets demographische Bedingungen (eine kleine Bevölkerung auf einer relativ großen Landfläche) dazu beitrugen, dass das Ausmaß der Ausbeutung abgeschwächt wurde. Die Situation war ganz das Gegenteil von China im frühen 20. Jahrhundert, wo die Situation von viel zu wenig Land für die große Bevölkerung den Landeigentümern eine harte Ausbeutung erlaubte. Chinas Charakterisierung der tibetischen Gesellschaft als feudal (technisch eine problematische Beschreibung) verdunkelt die Tatsache, dass diese sozial rückständige Gesellschaft, in der es keine Spannungen durch Überbevölkerung wie andernorts gab, einfach nicht zusammenbrach, so wie man es erwarten würde, und reibungslos bis in das 20. Jahrhundert fort existierte. Ungleich? Ja. Manchmal rau? Ja. Aber die Hölle auf Erden für die überwältigende Mehrheit der Tibeter? Nein. Die traditionelle tibetische Gesellschaft war nicht ohne Grausamkeiten (die Bestrafungen, die man bei einigen politischen Opfern sehen konnte, waren in der Tat brutal), aber proportional betrachtet verblassen sie im Vergleich zu dem, was zur gleichen Zeit in China passierte. In der Neuzeit fand eine Massenflucht aus Tibet tatsächlich nur nach Tibets Annektierung zur Volksrepublik China statt.

Bezeichnenderweise schmückt China oft seine Hölle-auf-Erden-These mit Fotografien und Anekdoten aus, die von den eher einseitigen britisch-imperialen Aufzeichnungen stammen. Dass man solches Material auch nutzen könnte, um eine ähnliche Geschichte der dekadenten chinesischen Barbarei zu kreieren ist keine geringe Ironie; und solche Behauptungen können in der Tat in der Literatur seit dem Zeitalter des Imperialismus gefunden werden. Eine weitere Ironie ist, dass es für Tibeter heutzutage wahrscheinlich keine Zeit gibt, in der sich die Erinnerung an die Geschichte als so grausam und so rigoros eingeschrieben hat wie die, die mit den demokratischen Reformen in den 1950er Jahren begann (außerhalb der gegenwärtigen ART) und die sich bis in die Tiefen der Kulturrevolution fortsetzte. Als die ersten Repräsentanten des Dalai Lama zurückkehrten, um 1979 Tibet zu bereisen, belehrten die Kader in Lhasa, an ihre eigene Propaganda glaubend, die Einwohner der Stadt darüber, keine Wut gegenüber den besuchenden Repräsentanten der grausamen feudalen Vergangenheit abzulassen. Was dann wirklich passierte, wurde auf Film durch die Delegation festgehalten und ist immer noch beeindruckend zu sehen: Tausende Tibeter fielen im Zentrum von Lhasa über sie her und erzählten unter Tränen, wie schrecklich ihr Leben im Laufe der letzten 20 Jahre geworden war. Diese Szenen verblüfften die chinesische Führung und machten, zumindest für einige unter ihnen, die Tiefen deutlich, in die die tibetische Gesellschaft seit der Ära der »Feudalen Leibeigenschaft« gesunken ist.

Es ist kaum wahrscheinlich, dass die meisten Tibeter nach all diesen Jahrzehnten bereit sind, der von der Regierung aufgezwungenen Beschreibung ihrer Vergangenheit Glauben zu schenken; diese ungeschickten Handlungen könnten viele dazu bringen, ihre Vergangenheit als rosiger zu sehen als sie tatsächlich war. Es ist ebenso unwahrscheinlich, damit große ausländische Zielgruppen jenseits derer, die bereits überzeugt sind oder es gerne wären, zu gewinnen. Am wahrscheinlichsten wird es einfach das chinesische Gefühl einer Umerziehungsmission in Tibet verstärken. Das Kolonialdenken und die Arroganz, die solchen Missionen innewohnt, wenn sie in der Vergangenheit von europäischen Mächten aufgeführt wurden, ist offensichtlich. Und es ist genau diese Haltung, die voraussichtlich die Spannungen in Tibet verschärft und—berechtigterweise—die Tibeter dazu führt, Chinas Präsenz in ihrem Land als gleichwertig mit dem Kolonialismus anderer Nationen zu betrachten.